Die kykladischen Figurinen zählen definitiv zu den enigmatischen, abstraktesten und evokativen Objekten der griechischen Vorgeschichte. Zudem haben sie die Pioniere der abstrakten Kunst und des Kubismus im frühen Zwanzigsten Jahrhundert inspiriert.
Sie entstanden Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus über eine Periode von einigen Jahrhunderten auf den kykladischen Inseln der südlichen Ägäis, also während der frühen Bronzezeit zwischen 2800 und 2300 v. u. Z. Nur ungefähr 1500 Figurinen wurden bis dato gefunden. Ungefähr die Hälfte wurde während systematischer archäologischer Ausgrabungen entdeckt, viele andere fanden ihren Weg hingegen von ungenehmigten Grabungen auf internationale Antiquitäten Märkte. Die meisten der Figurinen scheinen Grabbeigaben gewesen zu sein – in Grabstätten von Frauen und Männern -, andere wurden in Siedlungen gefunden. Der wichtigste Fundort ist die kleine Insel Keros, die unweit von Naxos in der zentralen Ägäis liegt. Griechische und britische Autoritäten haben dort Hunderte von Exponaten ausgegraben die alle zerbrochen wurden bevor sie nach Keros gebracht wurden, woraus die Archäologie schließt, das sich dort eine bedeutende Kultstätte befand, die der umliegenden Region diente.
Bevor wir uns aber in die schwierige Diskussion über ihre Bedeutung und Funktion vertiefen, sollten wir sie erst einer genaueren Betrachtung unterziehen.
Üblicherweise sind die Figuren relativ klein – ungefähr 50 cm hoch – doch gibt es auch größere Exponate. Alle sind hochstilisierte Abbildungen menschlicher Formen aus ortsüblichem Marmor, der mit dem Meißel bearbeitet und abschließend kunstvoll aufpoliert wurde. Typische Merkmale sind lang gestreckte Köpfe, verlängerte Hälse, betont stilisierte Nasen und dreieckige Schulterformen, während die Arme um den Bauch verschränkt und die Beine zusammengefasst sind, manchmal durch eine Einhöhlung unterbrochen. Aus heutiger Sicht möchte man meinen, das sie wie abstrakte Kompositionen der menschlichen Figur aussehen, einzigartig und von Schönheit durchwirkt. Dabei wird angenommen das fast alle Figurinen von zusätzlich aufgemalten Details, wie anatomische Punkte, Augen und Gesichtszüge verfeinert wurden. Die Zersetzung der Pigmente lässt uns diese Details jedoch nurmehr erahnen. Bei genauer Betrachtung erkennt man das sie gar nicht so flach sind, wie es zunächst scheint. Vielmehr treten die kurvigen Flächen in den Vordergrund und man erkennt, dass diese Krümmungen eine komplexe Körperoberfläche entstehen lassen; der Kopf strebt in eine Richtung, der Hals in eine Andere, die Oberschenkel drehen sich nach außen und die Knie strecken sich nach innen worauf wiederum die Füße mit einer weiteren, den Knien entgegengesetzten Drehung antworten. Wenngleich die kykladischen Figurinen in einer Varietät verschiedenster Formen und Stile erscheinen, was darauf hinweist das sie aus verschiedenen Orten und unterschiedlichen Zeiten stammen, stellt das eben beschriebene Beispiel mit Sicherheit eine weibliche Figurine dar, die als einen kanonischen Archetypus anerkannt wird.
Auch wenn es für das zeitgenössische Auge schwer ist, das genaue Geschlecht zu definieren, wird der Großteil der Figurinen durch Brüste, eine dreieckige Andeutung der Scham und einem betonten Bauch, der wahrscheinlich eine Schwangerschaft impliziert, als weiblich identifiziert. Männliche Darstellungen sind selten, zeugen jedoch von einer komplexeren Gestaltungskraft in der Komposition. Ein bekanntes Beispiel ist das „Gebet mit Leier“.
Zwei zentrale Fragen treten durch die Beschäftigung mit diesen faszinierenden Objekten hervor: Wen stellen sie dar und welchem Zweck dienten sie? Beide Fragen werden von Forschern diskutiert und bleiben umstritten. Die weiblichen, schwangeren Figuren unterstützen die Verbindung zu Fruchtbarkeit und Mutterschaft; sie könnten sehr wohl Gottheiten assoziiert werden, die mit Geburt und Regeneration in Verbindung stehen und die des Weiteren eine Rolle in Beerdigungsritualen innehatten. Ihre Gegenwart in vielen Grabstätten deutet auf symbolischen Gebrauch in religiösen Ritualen hin.
Aber sind es Abbilder einer Gottheit oder von Gläubigen?
Wen stellen sie dar? Götter, Priesterinnen, venerierte Vorfahren oder Anbetende?
Es gibt keine zureichenden Antworten auf diese Fragen, doch gerade dieses Unwissen macht die schlichte Aura, ja den Mythos dieser Figurinen umso anziehender.
So oder so besteht kaum Zweifel daran, dass diese Skulpturen und Objekte eine weitreichende soziale Bedeutung in einem symbolisch-religiösen Kontext hatten, zu dessen Nachvollzug wir heute nicht mehr imstande sind. Da es keine schriftlichen Überlieferungen aus dieser frühen Vorzeit gibt und die heutige Forschung nicht in der Lage ist, die sozialen Umstände der kykladischen Binnenumwelt zu erklären, bleibt alles was wir haben eine zeitlose, von Schönheit durchdrungene Kunst; eine poetische Kunst, die zum Nachsinnen anregt.